Am Seil

Engadin, Tuoi-Hütte. Die Morgensonne kitzelt rosa den Piz Buin. Die kleine Kletterei auf das Silvrettahorn vom Vortag steckt noch in den Knochen. Beim Aufstieg zum Jamspitz erzählt Bergführer Fredy Tscherrig aus seinem Erfahrungsschatz. Von schwierigen Entscheiden am Berg. Von seinen Herausforderungen als Hüttenwart der Turtmannhütte, mit dem Verband, mit dem Personal, mit dem Wechselkurs. Fredy Tscherrig erklärt einen Ausbildungsunterschied zwischen Schweizer und Deutschen Bergführern. In einer schwierigen Situation gehe in einer deutsch geführten Gruppe jeder allein. Der Schweizer halte seine Gruppe am Seil, vertraue auf die vereinten Kräfte. Wie das funktionieren kann? Indem alle aufmerksam sind, vorausschauend für die anderen agieren, sofort, vielleicht auch einmal zuviel. Einleuchtend, aber nicht risikolos. Und nicht zu erzählen, nur zu erleben.

Headhunter

Matura-Arbeiten. Was beschäftigt die aufstrebende Generation? Der kürzliche Besuch in der Kanti Wil hat sich sehr gelohnt. Nicht weil ich bahnbrechende Neuigkeiten erfahren hätte. Wie junge Menschen an ein Thema herangehen, welche Fragen sie sich stellen, das war jedoch sehr aufschlussreich.

Allein die Themenwahl beeindruckte: «Staatliche Unterstützung für arbeitslose Banker»: Das gibt es kaum, die RAV’s sollten sich auf Berufsgruppen ausrichten. «Bringt der Pendlerabzug die gewünschte Wirkung»: Nein, keine lenkende Wirkung, aber Geld für den Staat. «Ethische Analyse von Videospielen»: Kant und Mill lesen verdirbt den Spass am virtuellen Töten. «Gefangen in vier Wänden, im Körper und in den eigenen Gedanken»: Eingesperrte, Tetraplegiker und Menschen mit Depressionen leiden ähnlich und können nicht schlafen. «Das Label Energiestadt mit Postenlauf durch Uzwil»: Es ist gar nicht so einfach, Menschen für Energiethemen zu sensibilieren. «Hilfe, ich bin auf Hilfe angewiesen»: Einen Tag lang im Rollstuhl durchs Pflegeheim bringt neue Einsichten.

Gestaunt habe ich, mit welcher Präzision die jungen Menschen monatelang recherchiert, analysiert, interviewt und Lösungsvorschläge entwickelt haben. Und dass sich kaum ein Unternehmen für diese Präsentationen interessierte.

Müsste ich heute für ein aufstrebendes Unternehmen engagierte junge Leute mit Grips suchen, ich wüsste, was ich täte.

Blattrand

Uzwil hat ein neues Polizeireglement. Und wir staunen, was uns die Medien da für Fragen stellen. «Nein, zum Warum und Weshalb müssen Sie nichts sagen. Sagen Sie einfach etwas zum Verhältnis Securitas und Polizei», so die Anweisung eines Radio-Reporters. «Ob wir den Finanzhaushalt mit Bussen aufbessern wollen?», so die wichtigste und blödsinnige Frage eines Printmedianers. «Und wie steht’s mit dem Spucken? Darf man das in Uzwil?». Viel mehr will dieser Journalist gar nicht wissen. Nichts gegen detaillierte Fragen, auch unbequeme. Trotzdem ärgert es mich, wenn das Umfeld nicht interessiert, man einfach ein paar Fragmente herauspickt.

Erkenntnis? Vielleicht ist der allgemeine Tipp an die Jungbürgerinnen und Jungbürger gar nicht so schlecht: sie sollen sich überlegen, welche Fragen man zu einem Thema doch hätte stellen müssen und weshalb sie nicht gestellt wurden. Über den Blattrand hinaus denken. Vielleicht hätten wir das ins Polizeireglement schreiben sollen.

Orangen

Verhandlungen. Immer wieder herausfordernd. Man will ans Ziel, schnurstracks. Mit jeder Antwort öffnet sich das Feld für neue Argumente. So dreht sich das Karussell munter. Wie kommt man da raus?

Nach der Theorie des Harvard-Konzepts soll man den Kuchen vergrössern, bevor man ihn teilt. Lehrbeispiel: Weshalb eine Orange teilen, wenn der eine die Schale zum Kuchen backen oder der andere den Saft zum Trinken will?

Theorie hin oder her. Ich bin froh, dass Menschen grosszügig sind und auch Lösungen zustimmen, wenn wir nicht auf alle Fragen die allesklärende Antwort haben. Der Landerwerb für den Radweg Henau – Niederstetten ist so ein ganz reales Thema. Wir sind auf die Zielgerade eingebogen. Und ich freu mich, wenn wir bald über der Ziellinie sind – ein Dankeschön den Betroffenen.

Steuern

«Steuern» oder «steuern», die Bedeutung von Substantiv und Verb könnten unterschiedlicher kaum sein. Als Lenker, Pilot oder Kapitän bestimmt man den Weg und das Ziel, als Steuerzahler beides nicht, scheinbar. Kein Wunder ist «steuern» beliebter als «Steuern». Die Schweiz möchte deshalb ein möglichst wenig ungerechtes System, wie sichs für eine Demokratie gehört. Das System wird dennoch immer komplexer. Mit der Regelungsdichte steigt die Zahl der Ausnahmen und damit der Schlupflöcher. Automatische Meldungen sind das Gegenmittel. Aus dem Bankenwesen kennt man sie schon. Jetzt kommt das auch im Steuerwesen. Algorithmen prüfen uns auf Herz und Nieren, melden, was nicht zusammenpasst. Nicht nur zu meiner Freude. Technische Helferlein mögen dem Steueramt die Arbeit erleichtern. Immerhin musste man wegen der Steuererklärung einmal im Jahr Kassensturz machen. Das ist nicht so schlecht. Und die Selbstdeklaration nimmt einen als Staatsbürger in die Pflicht. Fällt sie weg, sinkt zwangsläufig die Identifikation mit dem Gemeinwesen: Es kommt nicht mehr auf mein Gefühl von Ehr und Redlichkeit an. Nicht mehr, was ich von mir selbst deklariere, sondern was die Technik für plausibel hält. Steuern ist vielleicht doch steuern.

Dating

Mittag. Sitze allein am Tisch, lese mehr zum Entscheid der Nationalbank. Als die Suppe serviert wird, bekomme ich ein Gegen- über. Ob sie mir schnell ein Anliegen mitgeben dürfe? Klar. Ich löffle und höre zu. Die nette Dame verabschiedet sich, ich notiere die neue Aufgabe. Pause. Als der Salat kommt, erbarmt sich ein Herr der gemeindepräsidialen Einsamkeit, nimmt auf dem freien Stuhl Platz. Eine kleine Frage zu Bauarbeiten in der Nachbarschaft? Kein Problem. Ich versuche die Salat-Blätter mit der Gabel zusammenzufalten und ohne Saucenspritzer auf dem Hemd zu essen. Vor dem Hauptgang ist der Fall gelöst. Mit der Polenta kommt der nächste Gesprächsgast. Ob er die Gelegenheit nützen dürfe? Logisch. Der Vereinspräsident schildert sein Thema. Zum Dessert gibt‘s Vermicelles und ein neues Vis-à-vis. Die Zeit gut nutzen, das müssen wir, Wirtschaft und Staat, aufgrund der neuen Kursentwicklung ohnehin.

Sympathisch kurze Wege – freut mich, diese Uzwiler Haltung. Auch als Antwort auf den Entscheid der Nationalbank. Speed-Dating der andern Art.

Nagelbrett

Uzwil fehlt etwas, eine richtige Fasnachts-Zeitung. So ein herzhaft boshaftes Blatt mit phantasievollen Verschwörungstheorien, mit distanzlos-humorigen Kommentaren. Der kaputte Allwetterplatz wäre ein gefundenes Fressen. Welche wunderbare Geschichte könnte man zum Spielplatz am Marktplatz konstruieren. Das Wasserspiel am Bahnhof böte viele Assoziationen. Das neue Gemeindehaus und die Euro-Krise könnte man erstklassig verwerten. Man könnte auch Fraktionen gegeneinander antreten lassen: jene, die mehr Abfallkübel wollen gegen jene, die weniger wollen. Oder die Baum-Fraktionen. Oder die Bushalte-Stellen-Fraktionen. Wenn ich mir vorstelle, was wir uns, Gemeinderat und Gemeindepräsident, selbst alles vorwerfen könnten, zu hohe Steuern und das Lädeli-Sterben.

In Flawil scheint die «Chratzbörschte» vor dem Aus. Und ich hätte gern eine. Vielleicht bin ich leichtsinnig: Wer behauptet nicht, er ertrage guten Humor und dann sticht’s doch? Feine Nadelstiche sind wie Akkupunktur, halten gesund. Auch auf einem Brett mit vielen Nägeln liegt sich’s besser. Eine Fasnachts-Zeitung ist eben Kur und Kür.

Format

Die Regierungen der Ostschweiz befürchten einen medialen Einheitsbrei ohne regionalen Bezug. Sie haben kürzlich beim Verwaltungsrat der NZZ interveniert. Ob’s etwas nützt?

Das Internet hat die Kommunikation verändert und wirkt auf das Familiengefüge, die Geschäftswelt und das Staatsverständnis. Ein paar Thesen dazu: Verheiratet sein ist in 30 Jahren nicht mehr das häufigste Lebensmodell. Das Eigenheim ist kein Lebensziel mehr, man nutzt Wohnraum auf bestimmte Zeit. Geregelte Arbeitszeit gibt es nicht mehr. Grenzen von Staaten lösen sich auf. Wichtiger wird die direkte Nachbarschaft. Politische Parteien werden ersetzt durch zahlreichere Gruppierungen, die auf ein bestimmtes Thema fokussiert sind. Man ist nicht im Theaterverein, sondern macht in einem Theater mit, als Projekt. Der fähige Handwerker kann einen “Bonus” verlangen, wenn er meine Toilettenspülung vor Ihrer repariert.

In dieser Zeit des Umbruchs geben wir erstmals das «Uzwiler Blatt» heraus. Auf Papier. Das Format ist grösser als A4, Tabloid. Die Schrift ist grösser als in einer Zeitung, der Zeilenabstand auch. Das Papier ist etwas fester. Das prägt den ersten Eindruck. «Format haben» ist dann aber eine Frage des Inhalts und des Horizonts. Drum finden Sie hier in Kürzest-Form auch, was bei unseren Nachbarn läuft. Unsere Welt ist weiter.

Medizin

«Du kannst den Gemeindepräsidenten belügen, den Hausarzt besser nicht!», erklärte mir ein deutscher Landarzt augenzwinkernd. Dem Hausarzt bringt man sich, dem Spezialisten das kranke Organ, brachte es Ludwig Hasler im Buch ‚Des Pudels Fell‘ auf den Punkt. Die Hausärzte fühlen den Puls der Gesellschaft. Im kürzlichen Austausch ging es um ethische Fragen wie die Pflege von Sterbenden. Es geht um gesellschaftliche Fragen wie schulärztliche Aufgaben oder Impfungen von schweren Krankheiten wie Masern oder Windpocken. So lange die Impfrate ausreichend hoch sei, bestehe wenig Gefahr für die Gesamtbevölkerung, gehe nur der Einzelne ein Risiko ein – mit Betonung auf «so lange». Diskutiert wurde auch, ob ein Ausbau der Spitex für die Nacht ärztlich notwendig sei. Es ging auch um scheinbar banales: die offiziellen Haus-Nummern fehlten oft. Die Designer-Zahlen erkenne man nicht, wenn man in Eile und im Dunkeln nach der ‚richtigen‘ Hausnummer suche. Der Arzt verliere wertvolle Zeit. Die Zeiten ändern sich. Es gibt Dinge, die früher besser waren. Um das zu schätzen, müssen sie schlechter werden. Ein Fall für die Philosophie, die Medizin oder für den Hausarzt?

Zum Schluss

Gestern traf ich meine Vorgänger, Siegfried Kobelt und Werner Walser, hörte Uzwiler Anekdoten. Meine Schlussfolgerung: Zu Kobelt’s und Walser’s Zeiten war man nicht nur Gemeindepräsident, sondern Gemeindammann. Das ist ein feiner Unterschied. Bei der Rolle «Gemeindammann» geht die integrale Sorge um Mensch, Wirtschaft und Umwelt weiter. Präsidenten gibt es viele.

«Wer nicht sät, kann nicht ernten …» Mit dieser Haltung gings durchs Jahr, durchs Leben. Darauf bedacht, möglichst viel richtig zu tun, auf dass es Ertrag bringen möge. Für Leib und Seele. Für andere und sich selbst. Und dann ist Adventszeit, Weihnachten, das Jahr geht zu Ende. Zeit, Rückschau zu halten. Da fällt mir auf, dass der Satz eine Fortsetzung braucht: «… und wer nicht erntet, kann nicht säen!» Wenns so einfach wäre, das Ernten. Dazu gehört das Vertrauen, dass man aus der Ernte wieder Saatgut gewinnen kann. Dass etwas eine gute Fortsetzung findet, wieder keimt. Für diese Hoffnung steht Weihnachten.

Darf man so etwas überhaupt schreiben? Der Gemeindepräsident ist Präsident, kein Seelsorger. Diese Frage stellte sich früher der Gemeindammann nicht. Er wünschte Ihnen einfach schöne Weihnachten. Und das tu ich jetzt auch.