«Hilfe und Pflege zu Hause», das ist kurz und bündig die Spitex. Ein kleiner Einblick in die tägliche Arbeit zeigt: zuerst soziale Kompetenzen, dann Fachkenntnisse. Weshalb? Ob im Haushalt oder bei der Pflege, nur wer Vertrauen hat, lässt sich helfen. Das braucht positive Erfahrungen. Eine solche war für mich die Begleitung von Esther Andermatt, Spitex-Mitarbeiterin und ausgebildete Krankenschwester, im Arbeitsalltag.
Start
Esther Andermatt klemmt sich kurz vor 7 Uhr ihre Tasche unter den Arm, wirft einen Blick auf die Tafel. Im Büro der Spitex in Oberbüren hängt die Einsatzplanung mit der Übersicht über alle Mitarbeitende: Was ist heute besonders, gibt es zusätzliche Aufträge? Im Schwick hat Esther Andermatt ihre heutige Tour im Kopf und ergänzt die Ausrüstung aus dem «Verbandskasten». Los geht’s: Zuerst den Taschen-Computer mit der elektronischen Zeiterfassung, dann das Auto starten.
Augentropfen und Small-Talk
Herr A. wartet in X. schon auf seine Augentropfen. Er macht sich’s im Lehnstuhl bequem und hält geduldig still. Ein bekanntes Prozedere, angereichert mit einer Prise Small-Talk. Wäre heute nicht der Arzt-Termin, so kämen auch die Füsse dran. Herr A. ist sozial gut einbettet, hat Familie in der Nähe. Esther Andermatt hält Rundum-Schau. Es ist alles, wie’s sein muss. Ein herzliches Adieu, auf bald. Und im Taschen-Computer Zeit und Material nachführen, damit fair abgerechnet werden kann.
Schicksal-Schlag und steile Treppe
Wir bleiben in X. Ein Ehepaar lebt in seiner Wohnung im ersten Obergeschoss. Während Esther Andermatt der Frau im Bad bei der Körperpflege hilft, schenkt mir Herr B. ein paar Blitzlichter aus seiner Lebensgeschichte. Seine Frau erlitt vor 10 Jahren einen Schlaganfall, just nach seiner Pensionierung. Seither ist der Aktionsradius des Ehepaars auf Wohnung und Terrasse beschränkt. Ausflüge, Besuche sind nur selten möglich. Die Treppe zur Wohnung ist so steil und schmal, dass sie nur mit grössten Anstrengungen zu überwinden ist. Herr B. hatte sich den Ruhestand anders vorgestellt. Die Spitex kommt täglich. Das gibt Struktur im Alltag und Abwechslung.
Ebenerdige Wohnung
5 Minuten später misst Esther Andermatt bei Frau C. den Blutdruck, kontrolliert die Medikamenten-Box, zieht die Latex-Handschuhe über und macht Fusspflege. Frau C. wohnt in einem Mehrfamilienhaus, im Erdgeschoss, alles gut erreichbar, Laden, Post, Bank, öffentlicher Verkehr. Frau C. erzählt, Esther Andermatt hört zu. Das spürbare Vertrauensverhältnis ist das Ergebnis des längeren Austauschs.
Veränderungen unterstützen
Kaum läutet Esther Andermatt an ihrer nächsten «Station», empfängt uns Hundegebell. Wir steigen durchs dunkle Treppenhaus ins Obergeschoss. Frau D. weist ihren Hund in die Schranken und bittet zum Küchentisch. Frau D. ist gesundheitlich stark angeschlagen, hatte Alkohol-Probleme. Sie erzählt von ihren Bemühungen, ihre Wohnsituation zu verbessern. Esther Andermatt bestärkt sie. Ob die Zeit reif ist? Esther Andermatt macht ihr Mut, sich nach einer «besseren» Wohnung umzusehen und checkt dabei Blutwerte und Medikamente.
Kontakte zu Nachbarn «gerettet»
Gute Stimmung beim Ehepaar E. Herr E. ist wegen einer Lungenfibrose ans Bett gefesselt, dennoch gut gelaunt und freut sich über den Besuch und die Sonne. Der Weg vom Bett zum Bad ist für ihn eine halbe Weltreise und nur mit zusätzlichem Sauerstoff zu bewältigen. Während Esther Andermatt bei der Körperpflege hilft und umlagert, höre ich von Frau E., wie es ihnen gelungen ist, die langjährigen nachbarschaftlichen Beziehungen ins neue Umfeld «mitzuzügeln». Der krankheitsbedingte Umzug vom Einfamilienhaus im Nachbardorf in die Wohnung ist den beiden leichter gefallen, weil sie ihre sozialen Kontakte behalten konnten – auch dank eigener Anstrengungen.
Und immer wieder erfasst Esther Andermatt die erbrachten Dienstleistungen, verwendetes Material und verabreichte Medikamente in ihrem Taschencomputer Auf der Fahrt zum nächsten Dorf erzählt sie aus ihrem Erfahrungsschatz: «Die Menschen können, wollen länger zu Hause bleiben. Entscheidend ist nicht allein die Spitex, sondern das Zusammenspiel von Arzt, Pflegeorganisationen und dem privaten Umfeld». Ordnung und Ernährung Im nächsten Dorf besucht Esther Andermatt eine ältere Dame, die allein in ihrem Einfamilienhaus lebt. Etwas mehr Ordnung wäre kein Fehler, frische Luft auch nicht und die Essenreste lassen schliessen, dass die Frau sich nicht mehr regelmässig ernährt. Dass es der Frau körperlich einigermassen gut geht, dass sie ihre Medikamente einnimmt und eine Grundpflege erhält, dafür sorgt die Spitex. Wo ist aber die Grenze? Ab wann kann ein Mensch auch mit Spitex-Betreuung nicht mehr zu Hause sein? Die Veränderung einzuleiten braucht Fingerspitzen-Gefühl.
Administration muss sein
Vor der Mittagspause kehrt Esther Andermatt zum Stützpunkt zurück, informiert Astrid Fuchs über die Besonderheiten und kleinen Geschichten. Astrid Fuchs ist auf die Informationen angewiesen: sie plant die Einsätze. Die Dossiers wollen nachgeführt und der Computer gefüttert sein, auf dass die Kommunikation mit Ärzten und Krankenkassen optimal klappt.
Lösungsansatz: Gute Beispiele zeigen
Meine Gedanken: Hilfe annehmen ist eine grosse Herausforderung. Weshalb gelingt das den einen besser als den anderen? Ist das nur charakterbedingt oder das Ergebnis von Erfahrungen? Dass man in dieser Weise in viele Privatleben Einblick nehmen kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Distanz macht es einfacher, Vergleiche zu ziehen. Menschen tun sich mit Veränderungen schwer. Die Körperkraft nimmt ab. Die Haltung «wozu noch?» nimmt zu. Weshalb hat ein Ehepaar den Umzug in eine altersgerechte Wohnung rechtzeitig geschafft und das andere Paar den Zeitpunkt verpasst? Veränderungen angehen braucht eine Reserve, eine geistige und körperliche Reserve. Und es braucht positive Beispiele, dass Veränderung eine grosse Chance ist. Dass man das schaffen kann, dass es nicht nur teurer werden muss, dass man Freiheiten gewinnt, dass man seine Kontakte auch an einem neuen Wohnort weiterpflegen kann. Mut machen an Hand von positiven Beispielen – das war die Reise mit der Spitex wert.