Glauben

Es weihnachtet. Einkaufen. Auch im Internet. Dank unseren elektronischen Spuren weiss der Händler, dass Sie aus der zahlungskräftigen Schweiz sind. Ob Sie von einem teuren PC aus shoppen oder mit einer lahmen Kiste. Je nach Profil zeigt Ihnen der Online-Shop einen anderen Preis fürs selbe Produkt. Am Morgen ist’s tendenziell günstiger als am Abend. Nach dem 25., dem Zahltag, ist’s teurer, auch vor Festtagen. Die Preise wechseln stündlich. Kein Wunder sammeln Unternehmen wie verrückt Nutzer-Daten. Sie wollen den «optimalen» Preis.

Ab 2015 gibt die Gemeinde Uzwil ein amtliches Publikationsorgan heraus. «Da brauch ich dann keine Zeitung mehr und spare mir das Abo!», könnte man sich sagen. «Nein!», sage ich dazu. Sie zahlen die Informationen sowieso. Entweder zahlen Sie mit dem Abo Ihre Zeitung. Oder Sie zahlen beim Einkaufen die Inserate in der Zeitung. Die Online-Nutzer zahlen mit den eigenen Daten, die morgen den Preis machen. Beim Zeitungs-Abo kennt man den Preis wenigstens.

Nur informierte Bürger können sich eine Meinung bilden. Seit Mitte November gilt im Kanton St.Gallen das neue Öffentlichkeitsgesetz. Damit Bürger erfahren können, was der Staat tut. Wobei alles seine Grenzen hat. Dass ich diese Texte schreibe, müssen Sie beispielsweise einfach glauben.

Studli

Sind Sie Fritz Studli schon begegnet, dem pensionierten Redaktor mit Dackel und Stumpen? Er beobachte vom Stammtisch aus das Uzwiler Geschehen. Was er wohl morgen zur letzten Bürgerversammlung schreibt? Ein Risiko geht er nicht ein. Denn Studli gibt es nicht. Er ist fiktiv, eine Kunstfigur, ohne Körper, deshalb ohne Gewicht. Trotzdem kann er auf die Füsse treten. Gelegentlich zu Recht. Etwa, wenn er feststellt, dass der Uzwiler Gemeindepräsident zu oft in die Kamera grinse. Studli rüttelt auf. Er beleuchtet die Investitionen der Gemeinde kritisch, trauert Hockey-Zeiten und Fasnachtsbeizen nach, spricht schlecht übers Zentrum.

Dass Studli mich ärgert, ist politisch notwendig und nicht weiter tragisch. Umgekehrt muss ich ihn auch nicht gut finden. Im Geiste hatte ich schon mal seinen Nachruf verfasst «Wir trauern um Fritz Studli usw.» und bin ob meines Gedankens erschrocken. Ich erinnerte mich an Andrej Kurkow’s Buch ‹Picknick auf dem Eis›. In diesem Buch verdient ein Schriftsteller seinen Lebensunterhalt, indem er Nachrufe schreibt, Nekrologe. Speziell daran: Er schreibt sie auf Vorrat, die beschriebenen Personen leben alle. Noch. Denn kaum hat er den Nachruf der Zeitungsredaktion abgeliefert, schlägt die Mafia zu.

Hoppla, das sind schwarze Gedanken. Allerdings: Studli lebt nicht, existiert gefahrlos. Und ich kann ebenso gefahrlos schreiben, muss den södrigen Stumpenraucher von gestern samt Hund nicht schonen. Er könnte mir ja auch als frisch-dynamisch frecher Zeitgeist auf die Füsse treten. Kontroverse ist das Salz in der Suppe, sagt Studli. Ich bin gespannt, was morgen in der Wiler Zeitung steht.

Adrenalin

Vorbereitung ist eine Frage des Respekts. Nur: wieviel Vorbereitung muss sein? Am Montag ist Bürgerversammlung. Der Gemeinderat könnte versuchen, in seinen einführenden Referaten jede erdenkliche Frage vorweg zu nehmen. Und so Vorbereitung beweisen. Das werden wir aber nicht tun. Sie hören zu Beginn eine kurze Einschätzung des Gemeinderats zu aktuellen Themen und zur Finanzlage. Dann sind Sie am Zug. Sie bestimmen mit Ihren Fragen, was Sie genauer wissen wollen. Wer fragt, führt. Und die Bürgerversammlung ist Ihre Plattform. Wenn Sie im Budgetheft keine Antwort finden, sollen Sie fragen. Und wir hoffen, sofort Antwort geben zu können. Auf dass gute Beschlüsse getroffen werden. Und dafür bereiten wir uns vor. Der Adrenalin-Spiegel könnte nämlich schon mal steigen. Vielleicht kommt man drum an eine Bürgerversammlung? Ich bin froh, wenn’s wieder vorbei ist.

Zukunftstag

Was macht Papa den ganzen Tag? Am Zukunftstag können Kinder ihren Eltern über die Schulter schauen. Das war gestern, tolle Sache. Womit ich nicht gerechnet hätte: es ist nicht ganz einfach, unter diesen Voraussetzungen diesen Text rechtzeitig abzuliefern. Mein Fahrplan ist völlig durcheinander. Jetzt ist es 17:24 Uhr. Redaktion und Tochter wollen langsam nach Hause. Ja, was hat ein Gemeindepräsident seiner Tochter einen ganzen Tag zu bieten? Hochwasserschutzmassnahmen, das Gemeindehaus-Projekt, Baubewilligungen, Raumplanung, Aktennotizen. Dabei sein, wie man stossweise Gemeinderatsbeschlüsse unterzeichnet und Rechnungen visiert, Fragen stellt. Vom Werkhof haben wir Tausalz mit, vom kaputten Allwetterplatz verklumptes Granulat. Welchen Eindruck nimmt ein Kind von einem Gwerblerkafi mit? Vier Themen in 15 Minuten ansprechen? Und immer schön locker bleiben. Sich erklären, einen ganzen Tag. Ich bin nudelfertig, meine Tochter noch fit. 17:42 Uhr.

Illusion

Treffen mit Stadt- und Gemeindepräsidenten von Baden-Württemberg. Ein Austausch über die Grenzen, Inspiration. Wie schafft man dort den Interessenausgleich? Was kann man von öffentlichen Körperschaften in einem anderen Umfeld lernen?

Kurze Wege, schnelle Entscheide. Das ist des Bürger’s Anspruch, Herr Gemeindepräsident! Also lehnt sich dieser aus dem Fenster, beansprucht seine Kompetenzen, schätzt ab, wozu die Ratskolleginnen und -kollegen noch Ja sagen. Für den Bürger, der etwas will, hat der Gemeindepräsident schier unendliche Kompetenzen. Man traut ihm zu, dass er jede Lärmquelle ausmerzt, Verkehrsinseln über Nacht beseitigt, Bushaltestellen verschiebt, Stützmauern, Photovoltaik-Anlagen und ganze Industriebetriebe in 15 Minuten bewilligt und Raser zähmt. Diese Illusion ist zu schön. Sie wird richtig schön, wenn man die deutschen Bürgermeister über die Regulierungswut der EU wettern hört.

Panschen

Milch durch Wasser ersetzen – ein alt bekannter Trick. Im Mittelalter wurden betrügerische Bäcker in einem Korb über eine grosse Jauchegrube gehängt. Wollten sie raus, mussten sie springen.

Und heute? Das Amt für Verbraucherschutz kontrolliert die ganze Lebensmittelkette im Kanton, 6 000 Betriebe. Bakterien werden mikroskopisch, Betrüger detektivisch aufgespürt. Von all dem merken Herr und Frau Schweizer im Alltag nichts.

Kontrolle tut Not. Wir geben immer weniger fürs Essen aus. Pferde- im Rindfleisch ist kein Zufall. Sägemehl im Orangensaft auch nicht. Wenn man Verpackung und Transport hinzurechnet, fragt man sich, wie Essen überhaupt so billig sein kann. Ob es so billig sein muss? Faire Preise wären mir lieber als Subventionen.

Und wie ist’s mit dem Ausland? Kann ein Schweizer Lebensmittelinspektor dort auch etwas essen, ahnend was da kreucht und fleucht?

Übergwändli

Da kommt Jill Biden, die Ehefrau des amerikanischen Vize-Präsidenten zu Besuch. Sabrina Würsch, bei Bühler AG als Polymechanikerin in Ausbildung, stiehlt ihr lachend die Show. Im blauem Übergwändli! Auf der Titelseite des Tagblatts vom 16. September. Das Bild hat mich gefreut. Übergwändli mit deux pièce auf Augenhöhe.

Das blaue Übergwändli steht für angewandtes Wissen. Man kann Theorie büffeln. Und irgendwann müssen die PS auf den Boden. Das leistet die Berufsbildung. Dieser Stolz wird auf dem Foto sichtbar. Weil man stolz sein darf, was wirklich gut ist. Wie auf das virtuelle Klassenzimmer, den classroom unlimited. Lehrlinge gehen in Uzwil und China gleichzeitig zu Schule, tausende Kilometer auseinander. Damit setzt Bühler zusammen mit dem Berufsbildungszentrum Uzwil weltweit Massstäbe. Und erhält dafür den europäischen Leonardo Award – Gratulation! Calvin Grieder, CEO der Bühler AG, darf nächste Woche den Preis übernehmen. Der Dresscode wird wohl kein Übergwändli vorsehen.

Neckless

Kann man heute noch etwas erfinden? Ist nicht das Meiste schon einmal gedacht worden? Die Uzwiler Band «Neckless» hat nicht nur den MyCoke-Music-Soundcheck gewonnen, ein Schweizer Talent-Wettbewerb gewonnen. Die Fünf haben sich neu gedacht: Die Indie-Rock-Band musikalisch einzuordnen, sei kaum möglich, schrieb ein Kritiker. Zudem haben sie ein neues Wort kreiert. «Neckless» gibts in keinem der drei Wörterbücher, in denen ich gesucht habe. Ich kann mir zwar einen Reim machen, was «Neckless» bedeuten könnte. Wer’s genau wissen will, geht am nächsten Samstag nach dem Herbstmarkt um 16.00 Uhr in die Uzehalle! Auf dass EHC Uzwil beim anschliessenden Startspiel nicht neckless spielt.

Rechtzeitig

Vor ein paar Monaten lud die Clientis Bank zu einer Veranstaltung «Planung der Pensionisierung». Mich hat interessiert: Was erzählt ein Finanzinstitut «meinen» Bürgern und was bewegt die Menschen heute zu diesem Thema? Der Anlass war gut besucht, die Referenten kompetent. Insgesamt ein guter Abend mit anregenden Gesprächen, das Publikum mehrheitlich um 60.

Ich bin selten irgendwo zu früh. Zu meinem Erstaunen auch hier nicht. Mit jedem Referat verstärkte sich mein Eindruck: mit 45 Jahren bin ich nur noch knapp rechtzeitig. Und das nur von Amtes wegen. Drum erzähle ich das. Für alle, die noch im Mittelalter stecken und nicht an solche Anlässe müssen. Ob man mit 65 etwas zu planen hat, hängt davon ab, ob man mit 45 geplant hat – auch wenn die EZB den Leitzins auf 0,05 (!) % senkt.

Jetzt gehe ich auf den Ausflug mit unseren Pensionierten, treffe also auf die versammelte Erfahrung zum Thema Ruhestand. Wie sagte William Somerset Maugham? Wenn man genug Erfahrung gesammelt hat, ist man zu alt sie zu nutzen.

Menschenerkennungspflicht

Langsam steuere ich auf die Personengruppe zu. Bekannte Gesichter. Ich rattere meine Personen-Gesichts-Stimmen-Namen-Datenbank ab. Da ist sie, die Präsidentin des Reitclubs Uzwil. Nur: wie heisst sie jetzt schon wieder? Gähnende Leere. Es kommt mir einfach nicht in den Sinn. Dabei müsste ich sie doch kennen. Die gemeindepräsidiale Menschen-Erkennungspflicht erleichtert den Suchlauf nicht. Also verlangsame ich das Tempo, hoffe dass sich die Stresshormone verflüchtigen. Der Blick in die Runde offenbar nur neue Lücken: Dieser Mann gehört nach Niederstetten. Diese Dame sah ich am Konzert der Jugend-Musik. Das ist der ehemaligen Pöstler. Gopf, es ist wie verhext. Je verzweifelter ich nachsinne, desto weniger Namen fallen mir ein. Dann stehe ich neben der Präsidentin. Sie begrüsst mich charmant: «Magst Du ein Glas Wein?» Das Ja-gerne verschafft mir eine Gnadenfrist. Mehr Stress gibt’s nur an der Bürgerversammlung. Als sie das Glas hebt, gebe ich auf: «Zum Wohl, Ursi!»